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Abgesang auf den Fetisch Wachstum

von Frank Lindscheid

Die weltweite Krise lässt alte Gewissheiten wanken, vor allem das Wachstumsversprechen westlicher Gesellschaften. Aber diese Entwicklung ist keineswegs neu, sie wird nur seit langem verdrängt, mahnt der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel. Er fordert einen "Plan B".

Wenn Meinhard Miegel mitten im Berliner Regierungsviertel die Krise hinter der Krise beschreibt, wirft ein Mitarbeiter eine ganze Serie von Statistiken und bunten Grafiken an die Wand - Mosaiksteine für ein düsteres Gesamtbild, das die alte Zauberformel "Wachstum" erschüttert. An Zahlen und Kurven sind die Exzesse der Wertpapierbörsen ablesbar, das seit Jahrzehnten sinkende Wirtschaftswachstum im industrialisierten Westen, der "ökologische Fußabdruck" der Menschheit, der zeigt, dass wir spätestens seit Mitte der 80er-Jahre die global verfügbare Biokapazität deutlich überstrapazieren. Daran ist ablesbar, wie schrumpfende Gesellschaften auf die demographische Blockade zusteuern und die Alterung und Sünden im Bildungssystem die Grundlage für das schwinden lässt, was sie gleichzeitig für die Stabilität ihrer Sozialsysteme und Altersversorgung so dringend brauchen: wirtschaftliches Wachstum.
Nicht nur Wirtschaftsführer, sondern auch Politiker predigen quer durch die Lager die Notwendigkeit steten wirtschaftlichen Zuwachses. Der Grund: Europäer und Amerikaner sind zutiefst geprägt von Erwerbsarbeit, Besitzstreben und materiellem Wohlstand. Noch wichtiger als individuelle Glücksvorstellungen ist aber die Tatsache, dass die Funktionstüchtigkeit des Gemeinwesens in hohem Grad davon abhängt. Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und gesellschaftlicher Frieden sind auf das Engste mit einer wachsenden Ökonomie verknüpft.
Das begründet die Sorgen der Regierenden, die in der aktuellen Krise ein Rettungspaket nach dem anderen schnüren - mit unabsehbaren Folgen für die langfristige Verschuldung, die seit Jahrzehnten ebenfalls wächst. "Wir hängen am Wachstum wie ein Drogensüchtiger an der Nadel", sagt der Professor, der in diesen Wochen 70 Jahre alt wird. Lange Zeit wurde die Zauberformel der westlichen Kultur eingelöst. Und weil das so ist, fehlen gesellschaftlich akzeptierte Konzepte für eine Zeit, in der stetiges Wachstum mehr und mehr zur Utopie werden könnte.
Aber nicht erst unter den Vorzeichen der Finanzkrise löste sich das "dominante Glücksversprechen" in eine Phrase auf. Die Wachstumsraten in Deutschland sanken seit den 50er Jahren schwankungsbereinigt kontinuierlich von über zehn Prozent auf ein karges Prozent Anfang des 21. Jahrhunderts. Das entspricht der Entwicklung in den meisten Industriestaaten. "Die Situation ist ernster als wir denken" folgert Miegel.
Denn selbst die Fundamente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beginnen zu bröckeln. Politiker brauchen Wachstum, um Vertrauen aufzubauen. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem vergangenen Jahr kommt zu dem Ergebnis, dass die Akzeptanz des demokratischen Systems von vielen Menschen mit "der Gewährleistung materiellen Wohlstands verknüpft wird". Miegels Kernthese lautet deshalb: Die Gesellschaften des Westens sind zu Verhaltensänderungen geradezu gezwungen. "Sie müssen ihre Lebensbedingungen einer sowohl endlichen als auch transparenten Welt anpassen". Und das setzt einen tief greifenden Bewustseinswandel voraus.
Vieles klingt nicht absolut neu, seit der "Club of Rome" 1972 vor den "Grenzen des Wachstums" warnte und die ökologische Bewegung der 80-er Jahre neue Gesellschaftsleitbilder und ökonomische Nachhaltigkeit einklagte. Politiker wie Helmut Kohl mokierten sich gerne über "Kulturpessimisten". Der Unterschied laut Miegel: Wir leben in einer Zeit, in der statistisch nachweisbar eintritt, wovor die Kritiker vor 30 Jahren gewarnt haben.
Aber Miegel will kein Apokalyptiker sein, der den Untergang prophezeit. Er fordert ein radikales Umdenken, einen "Plan B". Mitten in einer epochalen Krise, die Aktienkurse ins Bodenlose rauschen lässt, riesige Finanzkonzerne verschlingt und Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet, hebt der Professor aus Bonn das Projekt "Denkwerk Zukunft" aus der Taufe. Miegel und seine Mitstreiter wollen den verengten Wohlstandsbegriff erweitern. Musische Erziehung, ein vertieftes Verständis von Natur und Kunst, Kreativität, Wissenschaft und Religion. "Nur bei einem solchen Wohlstandsverständnis wird das Leben der Menschen auch noch in Generationen reich und lebenswert sein."
Das klingt durchaus nach den Leitideen moderner Postmaterialisten, nach grün wählenden Akademikern und der Weltsicht Wertkonservativen, nach neuem Bildungsbürgertum. Und es klingt eben auch reichlich vage. Wie etwa das Rentensystem ohne Zuwachs angfristig finanziert werden kann, bleibt im Dunkeln. Aber so ist Ausgangslage für "Plan B".

Kieler Nachrichten, 6. März 2009